Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen
Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen
Der sogenannte „Orgasm Gap“, also die Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen, ist ein zunehmend diskutiertes Thema im gesellschaftlichen und sexualwissenschaftlichen Diskurs. Gemeint ist damit, dass Frauen in heterosexuellen Sexualbeziehungen im Durchschnitt seltener einen Orgasmus erleben als ihre männlichen Partner – oder als Frauen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen.
So zeigt eine US-amerikanische Studie, dass 75 % der heterosexuellen Männer nach eigenen Angaben beim Sex immer zum Orgasmus kommen, während dies nur 33 % der heterosexuellen Frauen für sich angeben. Demgegenüber berichten 69 % der Frauen in lesbischen Beziehungen, beim Sex regelmäßig einen Orgasmus zu erleben (vgl. Frederick et al., 2017, zit. nach Bösch, 2024).
Eine weitere Studie aus Deutschland zeigt, dass Orgasmusstörungen nach einem verminderten sexuellen Verlangen die zweithäufigste sexuelle Funktionsstörung bei Frauen darstellen. Zudem sind Frauen laut dieser Untersuchung etwa doppelt so häufig wie Männer davon betroffen (vgl. Briken et al., 2020, zit. nach Bösch, 2024).
Was ist ein Orgasmus?
Was genau als Orgasmus verstanden wird, ist nicht immer eindeutig. Häufig stimmen der körperliche Höhepunkt und das emotionale Erleben nicht vollständig überein. Das Sexualreaktionsmodell von Masters und Johnson beschreibt den Orgasmus als reflektorische Reaktion auf ausreichend starke sexuelle Erregung. Im Modell „Sexocorporel“ wird weiter zwischen einer „orgastischen Entladung“ und einem „Orgasmus“ im engeren Sinne unterschieden:
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Orgastische Entladung: Rhythmische Kontraktionen der Beckenboden- und Bauchmuskulatur, begleitet von einem Abfall des Muskeltonus und der Durchblutung (Vasokongestion).
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Orgasmus: Orgastische Entladung mit intensivem Lust- und Genussgefühl, oft begleitet von emotionaler Entladung (vgl. Bösch, 2024).
Mögliche psychologische Einflussfaktoren
Nicht jede Frau empfindet eine geringere Orgasmushäufigkeit als belastend. Dennoch kann eine andauernde Unzufriedenheit mit dem sexuellen Erleben psychisch wirken. In der sexualpsychologischen Literatur werden folgende Einflussfaktoren diskutiert:
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Ängste, insbesondere Erwartungsdruck und Leistungsstress
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Schwierigkeiten, sich emotional einzulassen
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Scham, selbstkritische Beobachtung
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Angst vor Kontrollverlust
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Konflikte innerhalb der Partnerschaft
Diese Aspekte können das sexuelle Erleben und die Orgasmusfähigkeit beeinträchtigen. Wichtig ist: Körperliche, medizinische und substanzbedingte Ursachen sollten ärztlich abgeklärt werden.
Stimulation, Aufmerksamkeit und Selbstkenntnis
Eine mögliche, oft unausgesprochene Frage ist: Könnte die Orgasmuslücke auch mit der Art und Weise zu tun haben, wie in heterosexuellen Kontexten stimuliert wird?
Frauen kennen ihren Körper in vielen Fällen besser, insbesondere im Kontext gleichgeschlechtlicher Beziehungen, in denen häufig ein anderer Zugang zur weiblichen Sexualität besteht – feinfühliger, differenzierter, manchmal weniger zielorientiert. Männer hingegen haben möglicherweise seltener gelernt, wie fein abgestuft und individuell weibliche Lust funktioniert. Die Vorstellung, dass Penetration „ausreicht“, wird gesellschaftlich und medial oft reproduziert – ebenso wie die Annahme, der männliche Orgasmus sei der Höhepunkt des Geschehens.
Vielleicht lohnt es sich daher – auch im Sinne partnerschaftlicher Nähe – als Mann den eigenen Fokus neu auszurichten: Weg vom „Erfolg“, hin zur Aufmerksamkeit. Einfühlungsvermögen, gezielte Kommunikation, eine offene Haltung gegenüber weiblicher Selbstbefriedigung (auch gemeinsam) und die Bereitschaft, sich zeigen zu lassen, was sich gut anfühlt, können einen großen Unterschied machen.
Reflexion und Selbstwahrnehmung
Im Folgenden finden sich einige allgemeine, nicht-therapeutische Gedanken, die zur Selbstreflexion anregen möchten. Sie ersetzen keine psychotherapeutische oder medizinische Beratung.
Den eigenen Körper kennen und annehmen
Ein liebevoller, bewusster Umgang mit dem eigenen Körper, insbesondere dem Genitalbereich, kann wesentlich zum sexuellen Wohlbefinden beitragen. Die Vulva und Vagina nicht nur anatomisch, sondern auch emotional als Teil der eigenen Identität wahrzunehmen, schafft Vertrauen und Sicherheit – auch in der partnerschaftlichen Sexualität.
Unterschiedliche Erfahrungen verstehen
Selbstbefriedigung und partnerschaftlicher Sex unterscheiden sich oft stark. Manche Frauen erleben Penetration als ungewohnt oder überfordernd, insbesondere wenn sie feinere, äußere Reize gewohnt sind. Umgekehrt kann es vorkommen, dass Männer vorrangig Penetration als sexuelle Handlung kennen, jedoch weniger Erfahrung mit der feinfühligen Stimulation der Vulva und Vagina gesammelt haben.
Ein bewusster Austausch über Vorlieben, Unsicherheiten und Wünsche kann hier neue Nähe ermöglichen.
Emotionale Verbindung als Basis
Sich sexuell zu öffnen, setzt häufig emotionale Sicherheit voraus. Das Gefühl, gesehen, respektiert und verbunden zu sein, ist oft entscheidender als Technik oder Timing. Sexualität beginnt lange vor der eigentlichen Handlung – sie lebt von Blickkontakt, Zuwendung, Berührung und Vertrauen.
Ist der Orgasmus das Ziel?
Nicht jeder sexuelle Kontakt muss mit einem Orgasmus enden. Auch emotionale Nähe, Verbundenheit oder Berührung können als erfüllend erlebt werden. Wichtig ist, dass Erwartungen nicht zu Druck werden. Wenn etwa der Mann das Gefühl hat, seine „Liebhaberqualität“ am weiblichen Orgasmus messen zu müssen, kann dies für beide Seiten belastend sein.
Fazit
Die Orgasmuslücke in heterosexuellen Beziehungen ist ein komplexes Phänomen, das sich nicht mit einem einfachen Grund erklären lässt. Doch die Auseinandersetzung mit sexueller Kommunikation, Selbstannahme und gegenseitiger Aufmerksamkeit kann wertvolle Impulse für mehr Intimität und Zufriedenheit liefern.
Hinweis:
Dieser Text dient der allgemeinen Information zu sexualpsychologischen Themen. Er ersetzt keine ärztliche oder psychotherapeutische Beratung. Organische oder psychische Ursachen sexueller Schwierigkeiten sollten immer fachlich abgeklärt werden. Dieser Beitrag stellt keine gesundheitsbezogene Werbung im Sinne des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) dar, sondern dient ausschließlich der allgemeinen Information und Reflexion zu psychologischen Themen im Zusammenhang mit Sexualität und Partnerschaft.
Literatur (Kurzangaben):
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Frederick et al. (2017), zit. nach Bösch (2024)
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Briken et al. (2020), zit. nach Bösch (2024)
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Bösch, Joana: Orgasmusstörungen von Frauen nach dem Modell Sexocorporel, Präsentation 2024
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Beier/Bosinski/Loewit (2021): Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit